Wenn das halbe Budget für eine Bleibe draufgehtWohnen macht arm

Dass Studierende in Deutschland häufig in Armut leben, hat sich inzwischen herumgesprochen. Als wäre der Befund nicht schon bedrückend genug, lassen neue Zahlen die Lage noch brisanter erscheinen. Demnach gehen im Schnitt mehr als die Hälfte der Einnahmen, über die hiesige Hochschüler verfügen, fürs Wohnen drauf.
Konkret sind dies 53 Prozent im Falle derjenigen mit eigener Haushaltsführung, wie am Mittwoch das Statistische Bundesamt (Destatis) vermeldete. Entsprechend hoch fällt der Anteil derer aus, die aufgrund ihrer Mietausgaben nach gängiger Definition als überbelastet gelten. Dieser Fall liegt vor, sobald die Wohnausgaben auch nach Abzug erhaltener wohnungsbezogener Transferleistungen noch über 40 Prozent hinausgehen. Dies trifft auf 62 Prozent und damit fast zwei Drittel aller Studierenden zu.
Ermittelt wurden die Ergebnisse durch Auswertung der europaweiten Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions). Dabei beziehen sich die Angaben auf die Situation im Jahr 2024.
„Das ist dramatisch“
Die Gesamtbetrachtung aller sogenannten „alleinlebenden“ Studierenden offenbart noch höhere Werte. Darunter fallen sämtliche Wohnformen, bei denen auf eigene Faust und eigene Rechnung gewohnt wird, zum Beispiel in einem Zimmer im Haus eines Rentnerehepaars. Der fragliche Personenkreis gibt im Mittel 54 Prozent des Monatsbudgets für eine Bleibe aus, während 64 Prozent von einer Überbelastung betroffen sind.
„Das ist dramatisch“, meint Andreas Keller, Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Wenn es noch eines Weckrufs für die Bundesregierung bedurft hätte, dann haben den die Statistiker geliefert“, äußerte er am Donnerstag gegenüber Studis Online. Jetzt dürfe es keinen weiteren Aufschub mehr für eine Reform der Bundesausbildungsförderung (BAföG) geben. „Es braucht deutlich höhere Regelsätze und einen kräftigen Schub nach oben bei der Wohnkostenpauschale.“
Die beträgt aktuell 380 Euro und deckt nur selten die tatsächlichen Ausgaben. Das im Frühjahr vom Moses-Mendelssohn-Institut (MMI) vorgelegte „Hochschulstädtescoring“ bezifferte das bundesweite Mittel bei den Aufwendungen für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft mit 493 Euro – Tendenz steigend. In Großstädten reicht das längst nicht, in München wurden zu Beginn des Sommersemesters 800 Euro aufgerufen. Bei einer eigenen Ein- oder Zweizimmerwohnung wird es freilich noch happiger.
Soziale Auslese
Wer eines der raren WG-Zimmer ergattert, am besten einen öffentlichen Wohnheimplatz, hat es noch vergleichsweise „gut“. Die Kosten dafür fressen im Durchschnitt „nur“ 37 Prozent des Monatsetats auf und für „lediglich“ 34 Prozent dieser Gruppe stellt dies nach offiziellem Maßstab eine Überbelastung dar. Allerdings zeigen sich auch hier gewaltige Abweichungen mit Blick auf die Gesamtbevölkerung. Hier betrug die Wohnkostenbelastung im Vorjahr 25 Prozent (Ausgaben versus Einkommen) und der Anteil derer, die als überbelastet geführt wurden, lag bei zwölf Prozent.
„Die Zahlen sind alarmierend. Die hohen Mieten drohen viele Studierende zu erdrücken“, verlautete am Mittwoch vom Deutschen Studierendenwerk (DSW). Der Vorstandsvorsitzende Matthias Anbuhl erklärte: „Uns droht eine neue Form der sozialen Auslese über die Miete. Nicht mehr Talent und Interesse entscheiden, an welcher Hochschule ich studiere, sondern die Frage, ob ich mir eine Wohnung in dieser Stadt überhaupt leisten kann.“
Das lässt sich zuspitzen: Für viele und immer mehr wird ein Studium zu einer Frage der Existenz. Denn was bleibt jemandem noch zum Leben – Ernährung, sonstige Anschaffungen, Freizeitgestaltung –, wenn allein ein Dach über dem Kopf mehr als die Hälfte des verfügbaren Geldes beansprucht? Auf alle Fälle nicht viel.
Verzicht aufs Wesentliche
Nach Destatis-Angaben brachte es die Hälfte der Studierenden mit eigener Haushaltsführung zuletzt auf ein Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 930 Euro pro Monat. 47 Prozent davon (bei 53 Prozent Wohnkostenbelastung) entsprechen 437 Euro. Bei den seit Jahren immens gestiegenen Preisen in allen Lebensbereichen erfordert es schon eine ausgeprägte Verzichtsfähigkeit, um damit über die Runden zu kommen.
Oder anders: Die Befriedigung des Grundbedürfnisses Wohnen verlangt einer großen Schar an Studierenden Opfer ab, die in puncto gesunde Lebensführung, gesellschaftliche Teilhabe und zielführendes Studieren an die Grenzen des Erträglichen gehen. Dass derartige Zustände in einem so reichen Land wie der BRD zur Normalität gehören, ist eigentlich ein Skandal sondergleichen.
Die politisch Verantwortlichen wissen natürlich um die Misere, unternehmen aber seit Ewigkeiten nichts dafür, die Lage substanziell zu verbessern. Das gilt fürs BAföG ebenso wie für eine Wohnungspolitik, die die dringend nötige Versorgung mit bezahlbaren Wohnungen zugunsten von Profitinteressen großer Immobilienkonzerne komplett vernachlässigt.
Nächste Hängepartie
Erst am Mittwoch schlug ein Bündnis aus vier Organisationen, darunter der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Deutsche Umwelthilfe (DUH), „Alarm“. Sie wenden sich gegen den geplanten „Bauturbo“ der Bundesregierung, mit dem befristet bau- und planungsrechtliche Vorschriften gelockert werden sollen, um die Bautätigkeit zu beschleunigen. Die Verbände warnen, dass mit den Maßnahmen vor allem teurer, kleinteiliger Neubau (Einfamilienhäuser) und Luxusquartiere begünstigt werden, während der soziale Wohnungsbau und die Erschließung von erschwinglichen Wohnraum hinten herunterfallen.
Das gleiche Versagen beim Thema BAföG: Jüngst wurde bekannt, dass die Zahl der Empfänger auf den tiefsten Stand seit 25 Jahren abgesackt ist. Das ist die direkte Konsequenz der zurückliegenden, einmal mehr halbherzigen Novelle durch die abgewählte Ampelregierung.
Und was sind die Pläne der neuen schwarz-roten Koalition? Eine Hängepartie mehr. Die Bedarfssätze will Forschungsministerin Dorothee Bär (CSU) zwar auf das Niveau des Bürgergeldes anheben (guter Ansatz). Allerdings soll das in zwei Schritten passieren, beginnend mit dem Wintersemester 2027/28, und erst 2028/29 vollendet sein. Bis dahin werden wegen der Lohn- und Preisentwicklung Zehntausende mehr ihren Anspruch auf Unterstützung verloren haben.
Mehr Geld, mehr Raum
Der Zeit hinterher hinkt auch das Vorhaben, die Wohnpauschale auf 440 Euro aufzustocken. Das genügt längst nicht aktuellen Anforderungen und noch weniger denen im kommenden Jahr. Der Schritt soll nämlich erst im Wintersemester 2026/27 erfolgen, wobei die Mieten bis dahin bestimmt noch einmal um fünf bis zehn Prozent zugelegt haben.
„Das kommt alles viel zu spät und greift zu kurz“, findet GEW-Hochschulexperte Keller. Die Ministerin müsse jetzt „schnell einen Entwurf für eine umfassende BAföG-Reform vorlegen“, betonte er. „Dabei gehört die Wohnkostenpauschale kräftig angehoben und sie muss nach dem Vorbild des Wohngeldgesetzes höhere Pauschalen für Regionen mit besonders hohen Mietkosten vorsehen.“
Außerdem müsse der Bund sein Engagement beim Bau von studentischen Wohnheimen verstärken, ergänzte das GEW-Vorstandsmitglied. „Es darf einfach nicht länger sein, dass es vom Geldbeutel der Eltern abhängt, ob junge Menschen ein Studium in Chemnitz oder München aufnehmen können.“
„Zwei Dinge tun jetzt not“, bemerkte auch DSW-Chef Anbuhl. „Die ernsthafte Umsetzung der BAföG-Versprechen aus dem Koalitionsvertrag – und ein kräftiger Schub durch die Länder beim Bund-Länder-Programm ‚Junges Wohnen‘.“ Den Förderteil des Bundes daran wollen Union und SPD auf eine Milliarde Euro verdoppeln. So steht es in ihrem Koalitionsvertrag.
Herbst der Reformen
Darin steht so manches. Zum Beispiel „als Sofortmaßnahme“ die Absenkung der Stromsteuer „für alle auf das europäische Mindestmaß“. Inzwischen ist klar, dass es die Entlastung nur fürs produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft geben wird. Für mehr fehlt angeblich das Geld, während für Rüstung und die Bundeswehr in den kommenden Jahren auf Pump Hunderte Milliarden Euro mobilisiert werden sollen.
Hellhörig sollte auch die neueste Satzschöpfung durch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) machen: „Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten.“ Was das bedeutet, wird der anstehende „Herbst der Reformen“ zeigen. Vielleicht wird dabei auch das BAföG auf den Prüfstand gestellt. Allemal ließe sich eine Reform noch aufschieben. Wie schon so oft in der Vergangenheit. (rw)
Hinweis auf eine Korrektur: Wir hatten Andreas Keller zunächst als stellvertretenden Vorsitzenden der GEW bezeichnet. Das ist nicht mehr korrekt, er ist Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung der GEW. Wir haben das nun im Text geändert.