50 Jahre Rechtsbruch?BAföG(-Höhe) vor Gericht
Verstößt das BAföG in seiner aktuellen Form gegen das Grundgesetz? Mit dieser Frage befasst sich derzeit das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Angestoßen durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom Mai 2021 hat Karlsruhe zu prüfen, ob die Höhe und das Verfahren zur Festsetzung der Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) noch sozialstaatlichen Prinzipien genügen.
Der Hamburger Rechtsanwalt Joachim Schaller ist überzeugt: „Die BAföG-Bedarfssätze sind evident verfassungswidrig.“ Am Donnerstag wandte er sich zusammen mit Vertretern des „freien zusammenschlusses von student*innenschaften“ (fzs) und dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft und Wissenschaft (GEW), Andreas Keller, an die Öffentlichkeit. Ihr Appell an die Bundesregierung: „Wir brauchen noch zum Beginn des Wintersemesters 2023/24 eine BAföG-Reform.“
Zum Auftakt 930 Euro
Auf mindestens 930 Euro müssten demnach die Bedarfssätze für allein lebende Studierende in einem ersten Schritt angehoben werden, zuzüglich eines kostendeckenden Zuschusses für die Pflege- und Krankenversicherung. Dazu kommt die Forderung nach „Verankerung eines transparenten Verfahrens zur qualifizierten Ermittlung“ der Zuwendungen und ihrer regelmäßigen Anpassung an die Ausbildungs- und Lebenshaltungskosten.
Warum 930 Euro? Der Betrag entspricht dem aktuellen Unterhaltsbedarfssatz nach der sogenannten Düsseldorfer Tabelle. So viel müssen Eltern eines volljährigen Kindes, das studiert und nicht mehr zu Hause wohnt, bis Abschluss einer ersten beruflichen Ausbildung an monatlicher Unterstützung mindestens gewähren. (* Einschränkend sei hier aber erwähnt, dass die Eltern das nur müssen, wenn sie ausreichend leistungsfähig sind – solange BAföG erhalten werden kann, ist das in der Regel nicht der Fall.)
Zum Vergleich: Mit der im August 2022 in Kraft getretenen 27. BAföG-Novelle erhalten allein lebende Studierende lediglich 812 Euro (Regelsatz 452 Euro plus Wohnpauschale 360 Euro). Das sind 118 Euro weniger als ihnen eigentlich zusteht. Nimmt man das steuerliche Existenzminimum von 909 Euro zum Maßstab, beträgt die Lücke immerhin noch 97 Euro.
Bürger zweiter Klasse?
Damit verstießen die Leistungen gegen „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und verletzen darüber hinaus die Grundrechte der Berufswahlfreiheit und das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes“, erklärte Schaller. Die Ampelkoalition müsse der „absehbaren Klatsche aus Karlsruhe zuvorkommen und jetzt die Weichen für eine BAföG-Reform stellen“, ergänzte fzs-Vorstandsmitglied Rahel Schüssler.
Eine andere Richtgröße, nämlich den seit 1. Januar gültigen Regelsatz beim neu eingeführten Bürgergeld, hat unlängst die SPD-Bundestagsfraktion in die Diskussion gebracht. Der liegt bei 502 Euro und damit 50 Euro über dem BAföG-Bedarfssatz von 452 Euro. Laut Schaller gebe es „keine Anhaltspunkte“ dafür, dass Studierende weniger Geld benötigten als Bürgergeld-Empfänger. „Im Gegenteil: Sie müssen aus dem BAföG-Bedarfssatz nicht nur ihren Lebensunterhalt, sondern auch ihre Ausbildungskosten finanzieren.“
Wann das oberste deutsche Gericht in der Angelegenheit entscheidet, ist offen. Dass die Richter vom Gesetzgeber am Ende eine Korrektur verlangen, erscheint aber durchaus wahrscheinlich. Das Bundesverwaltungsgericht hatte vor einem Jahr jedenfalls erhebliche Zweifel angemeldet, ob die Berechnung der Bedarfssätze mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist. Die Methodik erscheine willkürlich und intransparent, monierten die Richter.
Ausbildungsbezogenes Existenzminimum
Geklagt hatte eine frühere Psychologiestudentin gegen den 2014/15 geltenden Grundbedarf von damals 373 Euro, den sie als in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen erachtete. Dabei verwies sie auch auf die deutlich höheren Leistungen für Hartz-IV-Bezieher. Nachdem sie mit ihrem Antrag in zwei Vorinstanzen gescheitert war, gab ihr das BVerwG schließlich weitgehend recht.
In ihrem Urteilsspruch verneinten die Leipziger Richter zwar einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Sehr wohl bestanden sie aber auf einem Anspruch auf ein „ausbildungsbezogenes Existenzminimum“, der im konkreten Streitfall nicht erfüllt worden sei.
Demnach ergebe sich aus dem Grundgesetz die Pflicht des Staates, Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten unabhängig von den Besitzverhältnissen der Eltern zu ermöglichen. Die Beantwortung der Frage, ob daraus eine Pflicht der Bundesregierung erwächst, das System der Bedarfsermittlung grundlegend neu aufzustellen, wollte das BVerwG aber Karlsruhe überlassen.
Unterlassene Hilfeleistung
Rechtsanwalt Schaller sieht in der geltenden Praxis einen in Jahrzehnten kultivierten Rechtsbruch. Seit Einführung des BAföG 1971 wären die Leistungen „nur sehr unregelmäßig und unvollständig angepasst worden“, wodurch die Schere zwischen dem studentischen Existenzminimum und den bewilligten Mitteln immer weiter auseinandergegangen sei.
In einer neueren Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht beziffert er die klaffende Lücke: Während ausgehend von einem Preisindex von 100 im Jahr 1970 die Lebenshaltungskosten bis 2022 auf einen Wert von 406 zulegten, blieb das BAföG mit knapp 295 deutlich zurück. Ergo wurden die Leistungen durch politisches Unterlassen massiv entwertet.
Und wenn schon die Fördersätze vor zehn Jahren (mutmaßlich) nicht verfassungskonform waren, dann gilt das heute erst recht. Neben den exorbitant gestiegenen Wohnkosten betrifft dies seit Beginn des Kriegs in der Ukraine vor allem für Energie und Lebensmittel, die bei Studierenden einen Großteil ihres Budgets ausmachen. Dazu kommen noch höhere Pflegeversicherungsbeiträge ab 1. Juli sowie ein Aufschlag bei den Krankenkassenbeiträgen zum 1. Januar 2024.
Bildungsministerin abgetaucht
In den seit vergangenen Herbst bewilligten Leistungen sind diese Mehrbelastungen alle nicht abgebildet. Die Zugabe von 5,75 Prozent gegenüber der 2019er-BAföG-Novelle ist von der Inflation längst aufgefressen. Zumal die Regelsätze nach davor etlichen Null- und Kleckerrunden schon damals nicht mehr annähernd dem tatsächlichen Bedarf entsprachen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat in seinem jüngst aktualisiertem Strukturreformkonzept eine Aufstockung des Bedarfssatzes von aktuell 452 Euro auf 602 Euro sowie dessen „regelmäßige und automatische“ Anpassung an die Kaufkraftentwicklung gefordert. Ferner müssten die Mietzuschüsse an den tatsächlichen Wohnkosten ausgerichtet werden.
Von der Hauptadressatin, Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), hört man indes seit Monaten keinen Ton zum Thema. Dabei hatte sie anlässlich ihrer halbherzigen 2022er-Novelle wiederholt angekündigt, noch in der laufenden Legislaturperiode eine große Strukturreform draufzusatteln. Allerdings möchte sie diese erklärtermaßen an die geplante Einführung einer Kindergrundsicherung koppeln, mit der die Koalition Ampel sämtliche Familienleistungen bündeln will.
Kindergrundsicherung auf Eis
Das zentrale sozialpolitische Vorhaben der Ampel ist aber seit Monaten ein Zankapfel. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) stellt die Finanzierung in Frage, die Familienministerin Lisa Paus (Grüne) auf zwölf Milliarden Euro jährlich taxiert. Zu Wochenanfang einigten sich die Streithähne darauf, sich bis auf weiteres nicht zu einigen. Soll heißen: Das Projekt wird auf Eis gelegt – mit offenem Ausgang. Steht damit auch die nächste BAföG-Reform in den Sternen?
Es sei ein Armutszeugnis, dass Stark-Watzinger „die Dinge so verschleppt“, beklagte am Freitag GEW-Vize Keller im Gespräch mit Studis Online. Dabei lägen die Fakten auf der Hand: So hätten schon 2021 laut aktueller Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) 37 Prozent der Studierenden mit Gesamteinnahmen unter 800 Euro monatlich zurechtkommen müssen. Dazu wären mit 63 Prozent fast zwei Drittel aller Studierenden erwerbstätig gewesen und das im Schnitt 15 Stunden pro Woche.
Außerdem hätten ihre Mietausgaben im Mittel 410 Euro im Monat betragen, für 21 Prozent der Befragten sogar über 500 Euro. Keller verwies zudem auf eine kürzlich veröffentlichte Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), wonach viele Studierende wegen der Inflation auf Kredite oder größere familiäre Unterstützung zurückgreifen müssen. In der Folge würden weniger Menschen ein Studium anfangen und mehr ihr Studium abbrechen.
GEW fordert 1.200 Euro
Zitat Keller: „Die Ampelkoalition darf nicht länger ausgerechnet beim BAföG knausern, Finanzminister Lindner muss endlich die Schatulle für eine umfassende Reform öffnen.“ Dazu gehörten die Anpassung der Förderdauer an die tatsächlichen Studienzeiten, die herkunftsunabhängige Ausgestaltung des BAföG, die Streichung aller Altersgrenzen, die Wiedereinführung der Regelförderung von Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I und perspektivisch die Weiterentwicklung der Ausbildungsförderung zu einem elternunabhängigen staatlichen Studienhonorar.
Und welcher BAföG-Satz schwebt dem Gewerkschafter vor: 1.200 Euro pro Monat, also zum Leben, zum Wohnen plus Kranken- und Pflegeversicherung. Das ist mal eine Ansage. Jetzt kommen Sie, Frau Stark-Watzinger. Oder auch nicht ... (rw)