Studieren im Krisenherd22. Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks
Ist etwas gewesen? Am Mittwoch wurde in Berlin die 22. Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks (DSW) vorgestellt, genauer: im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Die in längeren Abständen vorgenommene Untersuchung gilt als Standortbestimmung, wie es den Studierenden in Deutschland geht: mental, gesundheitlich, wirtschaftlich, sozial.
Das gilt umso mehr in ihrer neuesten Fassung, für die vor fast genau zwei Jahren der Startschuss fiel. Damals wurden die drei wichtigsten hochschulbezogenen Langzeitanalysen – die Sozialerhebung, der Studierendensurvey und „best: Studieren mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung“ – zusammengeführt, um daraus »Die Studierendenbefragung in Deutschland« zu bündeln (kurz “efa“ oder „eine für alle“).
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ist auf der begleitenden Webseite mit dem Satz verewigt: „Diese umfassende Befragung ist für eine daten- und evidenzbasierte Bildungs- und Hochschulpolitik von zentraler Bedeutung. Sie liefert uns eine gute Basis für kommende Maßnahmen und Entscheidungen.“
Basis für BAföG-Reform
Um es zu präzisieren: Die Studie ist der empirische Boden, aus dem die nächste Novelle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) erwachsen wird. Abhängig davon, wie es um die hierzulande rund 2,9 Millionen Hochschüler finanziell bestellt ist, müssen die politischen Entscheider entscheiden, ob und in welchem Maße sie finanziell besser zu stellen sind.
Stark-Watzinger hat wiederholt angekündigt, noch in der laufenden Legislaturperiode eine große Strukturreform beim BAföG aufzulegen, um es an die Studien- und Lebenswirklichkeit anzupassen und es elternunabhängiger, einfacher und digitaler zu machen. Aber keiner weiß, wann das sein wird und manches deutet darauf hin, dass die Sache doch nicht hinhaut in den kommenden zwei Jahren. Die Ministerin will das Projekt an die Einführung der geplanten Kindergrundsicherung koppeln. Über die wird koalitionsintern aber heftig gestritten.
Auch wegen dieser Unwägbarkeiten wäre der Termin am Mittwoch eine gute Gelegenheit für die Ministerin gewesen, sich zu erklären und mithin zu versichern, dass sie die Zeichen erkannt hat und mitten in den Vorbereitungen steckt. Zumal vor dem Hintergrund eines wesentlichen Befundes der Studie, dass nämlich die Zahl der in Armut lebenden Studierenden immer größer wird.
Stark-Watzinger bleibt weg
Aber wo war die FDP-Politikerin? Gar nicht da! Sie glänzte durch Abwesenheit, hatte offenbar Besseres zu tun. Vor sechs Jahren war Amtsvorgängerin Johanna Wanka (CDU) bei der Präsentation der 21. Sozialerhebung noch zugegen gewesen. Stark-Watzinger schickte dagegen ihren Parlamentarischen Staatssekretär Jens Brandenburg vor. Der gab pflichtschuldig zum Besten, die Ergebnisse seien ein „Auftrag für die nächsten Reformschritte“. Einen konkreten Zeitpunkt dafür nannte er allerdings nicht.
Absent ist die Sozialerhebung auch auf dem Internetportal des BMBF, obwohl es als dessen Förderer fungiert und die fragliche Medienpräsentation ausgerichtet hat. Während sonst zu fast jedem Ereignis ein Beitrag mit lächelnder Ministerin geschaltet wird, sparte man sich diesmal sogar eine einfache Pressemitteilung.
Weniger Wertschätzung für die Betroffenen der eigenen Politik geht kaum. Wenn heute über ein Drittel aller Studierenden kaum genug Geld zum Leben hat, ist das auch eine Folge des in Jahrzehnten politisch forcierten Niedergangs beim BAföG, nicht zuletzt der jüngsten Reform von 2022, die nicht nur rückblickend viel zu gering ausgefallen ist. Sich dieser Bilanz nicht zu stellen, zeugt von fehlendem Rückgrat oder schlicht Gleichgültigkeit, nach dem Motto: Wen kümmern schon Studierende.
Ein Drittel lebt prekär
Dabei gibt es reichlich Anlass zum Kummer. Etwa über die zunehmende „soziale Polarisierung“, die der DSW-Vorstandsvorsitzende Matthias Anbuhl beklagte. „Wir haben einerseits die 25 Prozent finanziell sehr gut Alimentierten – und andererseits ein Drittel der Studierenden, deren finanzielle Situation prekär zu nennen ist.“ Während also ein Viertel der rund 188.000 Befragten von 250 Hochschulen über Einnahmen in Höhe von mehr als 1.300 Euro verfügten, müssten 37 Prozent mit weniger als 800 Euro auskommen.
Zum Vergleich: Die sogenannte Düsseldorfer Tabelle gibt den finanziellen Anspruch volljähriger Kinder an, die einen eigenen Hausstand führen. Seit Jahresanfang liegt dieser bei 930 Euro, zum Erhebungszeitraum im Sommersemester 2021 waren es 860 Euro. Hunderttausende Studierende besaßen vor zwei Jahren mindestens 60 Euro weniger. Mehr als 25 Prozent hatten unter 700 Euro, über ein Fünftel unter 600 Euro, 16 Prozent unter 500 Euro und 10,6 Prozent mussten sich gar mit weniger als 400 Euro durchschlagen.
„Wir sorgen uns um diese Studierenden, die finanziell zu kämpfen haben“, bemerkte Anbuhl. Elf Prozent hätten sogar angegeben, von ihren monatlichen Einnahmen nicht leben zu können. An die Bundesregierung appellierte der DSW-Chef: „Lassen Sie beim BAföG nicht nach. Erhöhen Sie die Bedarfssätze, erhöhen Sie unbedingt auch die Elternfreibeträge, damit endlich wieder mehr Studierende vom BAföG profitieren können.“ Vor zwei Jahren profitierten lediglich 13 Prozent von der staatlichen Förderung.
Rekordinflation unberücksichtigt
In der Gesamtsicht standen die Studierenden im Jahr 2021, verglichen mit der Erhebung von vor sieben Jahren, wirtschaftlich besser da. Im Schnitt betrug ihr monatliches Gesamteinnahmen 1.106 Euro, nach 918 Euro im Jahr 2016. Die durchschnittlichen monatlichen Ausgaben schlugen mit 842 Euro zu Buche. Für Studierende des „Fokus-Typs“ – solche im Erststudium, die unverheiratet sind und nicht bei den Eltern wohnen – waren es 850 Euro, wogegen sich ihre Einnahmen auf 1.036 Euro beliefen. Kaufkraftbereinigt fällt der Zuwachs jedoch deutlich geringer aus und erreicht das mittlere Einkommen lediglich 876 Euro (2016: 842 Euro).
An dieser Stelle hat die Studie ihren größten „Haken“. Die Daten stammen aus der Zeit, als die Pandemie am Abklingen war und noch kein Krieg in der Ukraine wütete. Die durch die russische Invasion ausgelöste Energiekrise samt Rekordinflation sind in den Daten nicht eingepreist. Während vor zwei Jahren immerhin 77 Prozent der Befragten angaben, die Finanzierung ihres Lebensunterhalts sei „(eher) sichergestellt“, und überschaubare 13 Prozent einräumten, in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken, dürften die Nöte in der Zwischenzeit größer geworden sein.
Diesen blinden Fleck monieren auch die Juso-Hochschulgruppen. Die Annahme, die Untersuchung beschreibe die aktuelle soziale und finanzielle Lage der Studierenden nicht mehr realitätsgetreu, „steht wie ein großer Elefant im Raum“, äußerte sich Bundesvorstandsmitglied Johanna Liebe. Die sich abzeichnende Tendenz falle in Wirklichkeit „weit schlimmer“ aus. Deshalb könne eine „Sozialerhebung der Vergangenheit auch keine Grundlage für eine gerechte Sozialpolitik der Zukunft sein“.
Kostenpunkt | Ausgaben pro Monat |
---|---|
Wohnen | 253 - 720 € |
Essen | 171 - 245 € |
Fahrtkosten | 74 - 149 € |
Kleidung | 30 - 67 € |
Telefon, Internet etc. | 29 € |
Lernmittel | 20 - 90 € |
Krankenversicherung | 0 - 215 € |
Freizeit, Kultur und Sport | 48 - 91 € |
Semesterbeitrag und evt. Gebühren (Erststudium staatliche HS) | 14 - 136 € |
Weitere Ausgaben | 109 € |
Kosten insgesamt | 748 - 1.851 € |
Preistreiber Miete
Ein wesentlicher Preistreiber sind schon seit Jahren die Mieten. Zuletzt erst hatte eine Studie ergeben, dass ein WG-Zimmer im Bundesdurchschnitt mit 458 Euro pro Monat aktuell satte 23 Euro mehr kostet als noch vor einem halben Jahr (die Daten der Studie für knapp 100 Städte haben wir hier in einem Artikel zusammengestellt!). Laut Sozialerhebung mussten Studierende fürs Wohnen bereits vor zwei Jahren im Schnitt 410 Euro berappen – der größte Ausgabenposten überhaupt.
Dabei belief sich die BAföG-Wohnpauschale damals noch auf 325 Euro. Erst seit Wintersemester 2022/2023 sind es 360 Euro, was immer noch deutlich hinter der Erfordernissen zurückbleibt. Dasselbe gilt für die Höhe der Bedarfssätze. Mit der Reform wurden diese um 5,25 Prozent angehoben, was Kritiker damals schon für viel zu knapp erachteten. Die Inflationsrate kletterte allein auf acht Prozent, wobei der Wert für Menschen mit geringen Einkünften sogar noch höher lag, weil das Gros ihrer Ausgaben für das Lebensnotwendige wie Nahrungsmittel, Strom und Miete draufgeht, die in Summe um 13 Prozent im Preis zulegten.
Auch vor diesem Hintergrund mahnt Andreas Keller von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zum raschen Handeln. „Wir brauchen eine Erhöhung des BAföG-Höchstsatzes von derzeit 934 Euro auf ein bedarfsdeckendes Niveau von mindestens 1.200 Euro sowie in Zukunft eine regelmäßige und automatische Anpassung an die Steigerung der Lebenshaltungskosten“, befand er in einer Medienmitteilung.
Weniger Jobber
Außerdem müsse die Bundesregierung endlich die überfällige Strukturreform anpacken. Anders als im Koalitionsvertrag versprochen, plane die Ampelkoalition aber weder die Senkung des Darlehensanteils des BAföG zugunsten einer Zuschussförderung noch die Auszahlung eines elternunabhängigen Garantiebetrags für alle Studierenden, kritisierte der GEW-Vizevorsitzende. Auch Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen müssten „weiter in die Röhre schauen“.
Scheinbar im Widerspruch zum finanziell gestiegenen Druck auf die Studierenden steht eine rückläufige Erwerbstätigenquote. Mit 63 Prozent jobbten fünf Prozent weniger neben dem Studium als noch 2016. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Im Sommer 2021 stand der studentische Arbeitsmarkt noch unter dem starken Eindruck der Corona-Krise, in der massenweise Jobs verlorengegangen waren.
Heute hat sich die Situation wieder entspannt, was nicht heißen muss, dass die Erwerbsquote wieder den Stand von 2016 oder darüber erreicht hat. Möglicherweise haben sich Betroffene andere Einkommensquellen erschlossen. Bekannt ist etwa, dass in der Pandemie die Zahl der in Anspruch genommenen Studienkredite signifikant zugenommen hat.
Mental-Health-Krise
Zu bedenken sind auch die Konsequenzen studienbegleitender Erwerbsarbeit. Im Durchschnitt arbeiten die Betroffenen gemäß Erhebung 15 Stunden pro Woche, zusätzlich zu 34 Stunden fürs Studium. Dazu kommt eine soziale Schieflage: Von den Studierenden aus nichtakademischem Elternhaus jobben knapp 67 Prozent, jene aus Akademikerfamilien nur zu rund 60 Prozent. Sie verdienen sich häufiger „etwas dazu“, während ihre sozial schlechter gestellten Kommilitonen in der Regel für den Lebensunterhalt jobben.
„Wir dürfen Arbeit neben dem Studium nicht als netten Nebenverdienst verklären“, meldete sich der „freie Zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) zu Wort. „50 Stunden Wochenarbeitszeit sind eine körperliche und psychische Belastung, zu der Studierende ohne finanzielle Rücklagen keine Alternative haben.“
Daran anknüpfend zeigt sich eine weitere Nachwirkung der Corona-Krise: Mehr Studierende sind gesundheitlich angeschlagen. Fast jeder Sechste (16 Prozent) beklagte eine oder mehrere Beeinträchtigungen. 2016 lag der Anteil noch bei 11 Prozent. Unter den studienrelevanten Erkrankungen haben im Speziellen die psychischen Leiden erheblich an Gewicht gewonnen. DSW-Chef Anbuhl gab zu bedenken: „Wir haben im deutschen Hochschulsystem (...) eine Mental-Health-Krise der Studierenden.“
Strahlende Zukunft
„Wir hoffen, dass die neuen Zahlen für die Politikerinnen und Politiker ein Weckruf sind, die Ängste und Sorgen, die Studierendenvertretungen schon seit Jahren äußern, endlich ernst zu nehmen und zu handeln, denn sie sind gravierender als man nach der Präsentation der Sozialerhebungsergebnisse erwarten würde“, resümierte fzs-Referentin Lone Grotheer.
Nötig sei eine garantierte Studienfinanzierung für alle unabhängig vom Einkommen der Eltern, angepasst an studentische Realitäten und in einer Höhe, die die tatsächlichen Bedarfe der Studierenden wirklich decke. Und weiter: „Es kann nicht sein, dass die selbsternannte ‚Fortschrittskoalition‘ darauf wartet, ob das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sie zu diesem notwendigen und naheliegenden Schritt zwingt.“
Ob Ministerin Stark-Watzinger das gehört hat? Zur neuesten Sozialerhebung ist bis heute kein Wort von ihr überliefert. Stattdessen strahlt sie seit Dienstag von der BMBF-Webseite in die Kamera, in der Hand ein Memorandum der „Expertenkommission zur Laserfusion“. Ihr Verdikt: „Wir brauchen mehr Ambition auf dem Weg zu einem Fusionskraftwerk.“ (rw)