Privilegierte gegen PrivilegienausbauStipendiaten kritisieren die Erhöhung des Büchergeldes als sozial ungerecht
Von Jens Wernicke
Studis Online: Hallo, Thomas. Du bist Student in Berlin und Mitglied im Sprecherrat der Stipendiaten der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ab September soll nun das elternunabhängige Büchergeld aller öffentlich geförderten Stips von 150 auf 300 erhöht werden. Das finden einige von Euch gar nicht gut. Warum?

Erhöhung des Büchergelds wird von einigen Stipendiaten kritisiert
Thomas Stange: Wir haben als Stips bei unserer letzten Vollversammlung darauf hingewiesen, dass die erneute Steigerung des Büchergeldes um 100 Prozent Teil der programmatischen Elitenförderung der Bundesregierung ist. Mit dieser Erhöhung sollen gezielt Menschen über den gewöhnlichen materiellen Verfügungsrahmen, wie er "normalen" Studierenden zugute kommt, hinaus gefördert werden.
Das finde ich und finden auch andere deshalb problematisch, weil es ja ohnehin schon so ist, dass Stipendiaten der staatlichen Förderwerke durch die aus Steuergeldern finanzierten Stipendien mehr Geld zur Verfügung haben als beispielsweise BAföG-Empfangende. Außerdem ist nachweisbar, dass ein Großteil aller Stipendiaten im Lande ohnehin aus so gut betuchten Elternhäusern kommen, dass sie "nur" Anspruch auf das elternunabhängige Büchergeld haben. Mit dessen Erhöhung wird also explizit und vor allem jenen noch mehr gegeben, die es am allerwenigsten nötig haben.
Aber auch bei uns in der RLS gibt es Stips, für die das Mehr an Büchergeld materiell eine notwendige Erleichterung bedeutet, beispielsweise weil ihre Eltern ihnen die Unterstützung entzogen haben. Daher spreche ich hier auch nur für jenen Teil der Stipendiaten, denen es wichtig ist, zu betonen, dass das Geld von der Regierung primär auf Elitenförderung abzielt – den Bedürftigen, auch jenen "unter uns", jedoch andere Maßnahmen weitaus mehr von Nutzen wären. Ich denke da vor allem an eine spürbare Erhöhung des BAföG, die sich dann auch in einer Erhöhung der regulären, elternabhängigen Stipendiensätze widerspiegeln würde.
Aber ausgerechnet mit der Erhöhung des Büchergeldes wird in einem der sozial selektivsten Bildungssysteme der Welt die soziale Schere noch weiter auseinandergedrückt, werden die "Chancen" derer, die ohnehin schon viele haben, materiell noch weiter unterfüttert, während man zugleich den Abstand zum BAföG als "Breitenförderung" ausbaut und zementiert.
Wie meinst Du das, Stipendien seien sozial selektiv?

Interviewpartner Thomas Stange ist 28 Jahre alt, studiert an der TU Berlin Geisteswissenschaften mit dem Schwerpunkt auf Wissenschafts- und Technikgeschichte und ist seit vielen Jahren gesellschaftspolitisch aktiv.
Machen wir uns nichts vor: Ist die Stiftung, bei der ich mich auf ein Stipendium bewerbe, auch noch so progressiv oder liberal, sind es doch vor allem jene Menschen mit einem starken Netzwerk, die sich überhaupt an Stiftungen wenden - und sind zugleich diejenigen, die sich trotz schlechterer Noten etc. dort bewerben, eben in der Minderheit. Allein insofern ist jedes Stipendium sozial gesehen ein elitäres Projekt, weil man dafür wenigstens Netzwerke braucht und die zu vergebenden Plätze begrenzt sind.
Zudem ergeben aber auch immer wieder Studien, dass Stipendien überdurchschnittlich gut betuchten Studierenden zugute kommen. Wie in der Schule, scheint auch in Bezug auf den Erhalt eines Stipendiums die soziale Herkunft eines der allerwichtigsten Kriterien zu sein. Wenn dem nicht bereits sogar vorher schon so war, müssen wir festhalten, dass die Bundesregierung mindestens seit 2009 versucht, die Zuständigkeit dafür, die eigene Ausbildung zu finanzieren, zunehmend in private Verantwortung verschiebt, statt, was notwendig wäre, stattdessen alle Studierenden besser zu finanzieren.
Was bedeutete denn die Büchergelderhöhung für Deine konkrete eigene Situation? Und was für andere Stipendiaten?
Klar: Wir alle brauchen Geld und je nach familiärer und sozialer Situation sowie Wohnort ist es objektiv gesehen verschieden, wie viel davon notwendig ist. Wenn ich überlege: Vor meinem Stipendium habe ich nebenbei immer soviel gearbeitet, dass es ungefähr auf denselben monatlichen Betrag hinauslief, der mir jetzt qua Stipendium zur Verfügung steht. Jetzt kann ich jedoch meine Zeit hauptsächlich auf mein Studium verwenden, was mir in gewisser Weise einen Vorteil gegenüber anderen Studierenden verschafft, weil ich einfach mehr Zeit habe. Leistung korreliert also auch mit materiellen Voraussetzungen.
Außerdem ist es so, dass Menschen, die BAföG erhalten, das erstens zurückzahlen müssen und zweitens in der Regel davon in Summe gar nicht auskommen, so dass sie noch Geld hinzuverdienen müssen. Wir hingegen kriegen von vornherein 150 Euro – und bald dann 300 Euro – mehr, das so genannte "Büchergeld", und obendrein dann noch die "ideelle Förderung", wie es so schön heißt. Das meint Seminare, Hilfe, Coaching, Unterstützung etc.
Darüber hinaus können wir als Stips auch Wohngeld beantragen, was BAföG- Empfangenden nach dem Gesetz nicht möglich ist, obwohl sie deutlich weniger Geld zur Verfügung haben. Es wird also eine materielle und strukturelle Grenze zwischen uns "Glücklichen" und den normalen Studis gezogen, die schlicht und ergreifend ungerecht ist.
Und wenn das nun einige von Euch falsch finden - macht ihr dann auch was dagegen, ist etwas geplant?
Es gab bei den Stips der RLS seit den Planungen, das Büchergeld zu erhöhen, immer wieder Versuche, auf diese Politik in gewisser Weise institutionalisiert zu reagieren.
Soziale Selektivität bei der Begabtenförderung
Gegenwärtig werden Stipendiaten von den Begabtenförderungswerken in ihrem Studium bzw. bei ihrer Promotion unterstützt. Aus welchen sozialen Schichten kommen diese Geförderten? Welche Bildungswege haben sie bislang zurückgelegt? Wo und was studieren sie? Wie sind ihre finanziellen Lebensverhältnisse? Wie verläuft ihr Studium? Worin unterscheiden sich die Geförderten von allen Studierenden bzw. Promovierenden?
Auf diese und weitere Fragen versuchte im Jahr 2009 erstmals eine Studie der HIS Hochschul-Informations-System GmbH Antworten zu finden. Die wichtigste Erkenntnis lautet dabei: "Von allen Stipendiatinnen und Stipendiaten werden 80 % im Rahmen der Studienförderung unterstützt. Sie kommen überdurchschnittlich häufig aus hochschulnahen Familien: In zwei Dritteln der Herkunftsfamilien hat mindestens ein Elternteil auch studiert. Unter allen Studierenden im Erststudium gilt das lediglich für jedes zweite Elternhaus. Geförderte sind ganz überwiegend auf direktem Weg mit einer allgemeinen Hochschulreife ins Studium gekommen. Die meisten in der Studienförderung absolvieren ein Erststudium (97 %) und sind an einer Universität immatrikuliert. Nur 8 % der Geförderten studieren an einer Fachhochschule. Unter allen Studierenden im Erststudium beträgt dieser Anteil 30 %."
Dabei war beispielsweise die Gründung eines Vereines angedacht, der es ermöglichen sollte, statt das Mehr an Mitteln selbst zu verwenden, lieber bestimmte politische Projekte zu fördern und zu unterstützen. Ebenso haben wir überlegt, von unseren Büchergeldern ein eigenes kleineres "Stipendienprogramm" einzurichten, was die Geschenke der Regierung an die vermeintlich "Begabten" an jene weiterreicht, die es wirklich nötig haben. Vielerlei Probleme, sich zu einigen oder auch genügend Menschen für die Gründung eines Vereins oder Stipendienprogramms zusammen zu bekommen, brachten die Überlegungen aber immer wieder zu einem vorzeitigen Stopp.
Jetzt wird es demnächst wieder ein Treffen unter uns Stips der RLS geben und wir werden überlegen, ob wir eine politische Initiative einrichten, die die elitäre Politik der Regierung zum Gegenstand macht oder doch noch einen Verein gründen, der das Geld anderen Zwecken zugute kommen lässt. Genaueres ist aber im Moment noch offen.
Wichtig ist an dieser Stelle aber auch, zu betonen, dass die stipendiatische Kritik an der Büchergelderhöhung auch aus vielen anderen Förderwerken zu hören ist. Eine breite Initiative verschiedenster Stips hat bereits bei der "ersten Erhöhung" des Büchergeldes die Webseite stipendienkritik.de gegründet, um die Kritiker zu vernetzen. Und ein Bündnis aus Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes hat die Initiative "Stipendien spenden" ins Leben gerufen, mit der sie schon seit einiger Zeit dazu aufruft, die Erhöhung des Büchergeldes sozusagen zu verweigern und diese direkt in sozial sinnvollere Bildungszusammenhänge zu spenden.
Apropos: Wie sieht es mit dem entsprechenden Unbill denn bei den anderen Stipendiaten im Lande aus – weißt Du etwas hiervon?
Es gab bei den damaligen Überlegungen über die Gründung eines Büchergeldvereines einige Kontakte mit den Stips der Hans Böckler Stiftung (HBS). In dieser Stiftung gibt es ja schon seit den 1970er Jahren einen sogenannten "Soli-Fonds", der durch geringe Abgaben von ein paar Euro pro Stip finanziert wird und immer wieder große und kleine, vor allem aber außerparlamentarisch orientierte Projekte fördert. Deshalb werden wir sicher wieder an die Stips der HBS herantreten und sehen, was wir von ihnen lernen können und sie hoffentlich sogar als Bündnispartner gewinnen können.
Aber auch aus anderen Förderwerken gibt es Widerstand und Protest. So beispielsweise bereits sehr früh seitens der Stips der bereits genannten Studienstiftung des deutschen Volkes und jenen des Evangelisches Studienwerk Villigst auf der anderen Seite. Wir sind hier mit unserer Kritik also alles andere als allein.
Höchst interessant ist zudem, wie sich die Kritik, die ja überwiegend eine gegen soziale Ungerechtigkeit ist, über die Geförderten der verschiedenen Förderwerke verteilt. Von allen 12 in der Republik vorhandenen Förderwerken haben sich bei fast allen die Stipendiaten kritisch über die Büchergelderhöhungen geäußert.
Und was wäre Euer Vorschlag statt der Büchergelderhöhung ... was genau?
Nun, mit der Politik, dass die Zahl der Stipendien seit 2005 fast vervierfacht wurde, wird das deutsche Modell "gutsituierte Herkunft = guter Bildungsweg" manifestiert. Es geht daher kein Weg daran vorbei, allgemein und in der Breite die notwendigen Bedingungen dafür zu schaffen, dass Ausbildungen in Deutschland wieder von allen aufgenommen und mit guten Ergebnissen absolviert werden können.
So wäre die sinnvollste Alternative zur Büchergelderhöhung und der immer weiter ausgebauten "Elitenförderung" sicher eine Ausweitung des BAföG sowie eine erneute soziale Öffnung der Hochschulen.
An dieser grundsätzlichen Problematik würde auch ein Verein von uns zur "Umverteilung" nichts verändern können. Dessen Möglichkeiten sind strukturell ja begrenzt. Ja, ich denke sogar, dass "Spendenempfehlungen" herauszugeben kein sinnvoller Weg ist, um den skizzierten Problemen zu begegnen. Viel wichtiger und sinnvoller erscheint es mir hingegen, die politische Debatte über "Eliten" im Lande am Leben zu halten und weiter zu forcieren.
- Studienfinanzierung via Stipendien (Übersichtsartikel)
- Stipendien: "Nicht Lösung, sondern Teil des Problems" (23.06.2007)
- taz-Artikel "Eliteprojekt Büchergelderhöhung" (08.04.2010)
- Pressemitteilung des studentischen Dachverbandes fzs zum Zusammenhang zwischen BAFöG und Stipendien (13.01.2010)
- Studie der Hochschul-Informations-System GmbH zum Thema "Das soziale Profil in der Begabtenförderung" aus dem Jahr 2009
Artikel von über stipendienkritik.de organisierten Stipendiaten: "Die Kunst des Entfesselns. Kritische Betrachtungen des nationalen Stipendienprogramms"