Stipendien"Nicht Lösung, sondern Teil des Problems"
Ein Kommentar von Jens Wernicke
Vor und bei Einführung von Studiengebühren war stets der Aufbau eines "umfassenden Stipendiensystems" versprochen worden. Ein solches gibt es bis heute nicht. Von den 2 Millionen Studierenden will Annette Schavan zukünftig maximal einen Prozent, entsprechend etwa 20.000, mit öffentlichen Studienstipendien fördern lassen.
Das Deutsche Studentenwerk, das sich für die sozialen Belange der Studierenden einsetzt, hatte diese Stagnation bezüglich der Entwicklung eines Stipendiensystems bereits im letzten Jahr einen "Skandal" genannt.
Und um einen solchen handelt es sich auch. Allerdings noch in einer weiteren Hinsicht: Nicht nur, dass die Politik nicht einlöste, was sie versprach. Vielmehr verschärfen Stipendien in der Regel die soziale Ungleichheit und bauen sie nicht etwa ab (vgl. hierzu insbesondere auch die Ergebnisse der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks).
Denn sie sind nur für eine nach politisch bestimmten Kriterien definierte Minderheit gedacht und daher stets selektiv. Selbst sollte, was kaum je der Fall ist, das angelegte Vergabekriterium jenes der finanziellen Bedürftigkeit respektive des Nachteilsausgleiches sein, lassen Stipendien bei gleichzeitigem Rückzug des Staates aus der Bildungsfinanzierung die Bedürftigkeit der nicht geförderten Mehrheit außer Acht. Einer Mehrheit, deren Lebenshaltungskosten steigen und auf deren private Schultern der Staat (unter anderem mittels Studiengebühren) momentan mehr und mehr die Kosten ihrer Bildungsbeteiligung umlegt.
Dass das Vergabekriterium jedoch in aller Regel nicht jenes der "Bedürftigkeit" ist, hat unlängst auch eine Studie belegt. Tatsächlich steigt mit höherer sozialer Herkunft auch der Anteil der Studierenden, die ein Stipendium erhalten, an. Unter den Befragten (deutsche Universitätsstudierende ab dem 5. Fachsemester) beträgt der Anteil der Geförderten aus der Arbeiterschaft nur 2,1, bei der Grundschicht nur 2,6 Prozent. "Bei Studierenden aus der höheren Dienstklasse steigt der Anteil auf 3,5%. Mit Abstand liegen Studierende aus der Akademikerschaft vorn: 5,2% erhalten ein Stipendium der [öffentlichen] Förderungswerke" (zitiert nach: Informationen und Ergebnisse aus der Konstanzer Hochschulforschung: Stipendien von Stiftungen für begabte Studierende; Dezember 2006; siehe auch folgende Tabelle).
Tabelle: Studienfinanzierung durch Stipendien der Begabtenförderung nach sozialer Herkunft der Studierenden
(Angaben in Prozent für Studierende ab 5. Fachsemester, gemittelte Werte 1997 bis 2004)
Soziale Herkunft | Finanzierung durch Stipendien | ||
Teilweise | Hauptsächlich | Zusammen | |
Arbeiterschaft | 1,2 | 0,9 | 2,1 |
Grundschicht | 2,1 | 0,5 | 2,6 |
Mittelstand | 1,8 | 1,2 | 3,0 |
Höhere Dienstklasse | 2,6 | 0,9 | 3,5 |
Akademikerschaft | 4,4 | 0,8 | 5,2 |
Das bedeutet konkret: Die Studierenden aus wohlhabendem Elternhaus erhalten mit mehr als doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit ein Stipendium als jene, die es brauchen könnten!
Wie aber kommt es dazu? Was heißt das im Detail?
Minderheiten fördern, die Masse vernachlässigen
Es existieren momentan nur etwa 14.000 öffentliche Studienstipendien der anerkannten Förderwerke sowie geschätzte 26.000 andere Stipendien (potentiell unter anderem: Stipendien der Hochschulen, des DAAD, von Privaten etc.). Die öffentlichen Studienstipendien sind dabei etwa BAföG-adäquat, über die Höhe der anderen ist wenig bekannt - auch Einmalzahlungen oder geringe regelmäßige Bezuschussungen fallen aber in diese Kategorie. Diesen geschätzten 40.000 Stipendien stehen etwa 2 Millionen Studierende gegenüber, die wahrscheinlich in steigender Zahl mittels Studiengebühren privat zur Kasse gebeten werden.
Kein Stipendium erhalten also etwa 1,96 Millionen Studierende. Unter diesen gibt es rund 345.000 BAföG-EmpfängerInnen, die großteils nicht von den Studiengebühren ausgeschlossen werden sollen, obwohl sie sicher als bedürftig anzusehen sind. Zudem verfügt immerhin jeder und jede fünfte der 2 Millionen Studierenden momentan nur über ein Monatsbudget von unterhalb des BAföG-Höchstsatzes von 585 Euro.
Diesen Zahlen stehen rund 1,4 Millionen Studierende gegenüber, die ab dem Wintersemester 2007/2008 Studiengebühren zahlen sollen (eigene Berechnungen nach Daten des Statistischen Bundesamtes). Sowie 800.000 Studierende, für welche gemäß aktueller DSW-Sozialerhebung die Studienfinanzierung bereits jetzt unsicher ist.
Arme auch mit Stipendium arm
Für die wirklich Bedürftigen stellt ein Stipendium zudem ohnehin kaum eine Verbesserung dar: Im Gegensatz zum BAföG-Höchstsatz von 585,- Euro erhielten sie mittels Studienstipendium dann maximal 658,- (entsprechend 525 Euro Höchstbetrag plus 80 Euro Büchergeld plus 45 Euro Krankenkassenzuschuss plus 8 Euro Zuschuss für die Pflegeversicherung) sowie einen Wohngeldanspruch.
Auch mit diesen rund 600 Euro monatlich lägen sie jedoch ca. 300 Euro unter der in der EU gültigen Armutsgrenze und dürften die Probleme, bei diesem Etat 500 oder mehr Euro pro Semester an Studiengebühren abzuzweigen, behalten. Insbesondere dann, wenn sie Eltern haben, welche eben nicht in der Lage sind, sie in irgendeiner Art und Weise finanziell zu unterstützen.
Nicht zu vergessen sind zudem die Bedürftigen, die nicht einmal mehr einen BAföG-Anspruch haben. Ohne BAföG-Anspruch erhalten sie in aller Regel auch kein staatliches Stipendium mehr; allerhöchstens noch das Büchergeld.
Konservativ dominiert und alles andere als sozial
Etwa 65 Prozent aller öffentlichen Studienstipendien werden von nur 4 der staatlich anerkannten 11 Begabtenförderwerke vergeben. Diese vier Einrichtungen (Stiftung der Deutschen Wirtschaft, Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, Studienstiftung des deutschen Volkes) gehören zugleich dem konservativen Spektrum der Förderwerke an, was die Auswahl der StipendiatInnen sicher mit determiniert.
Die Quote der zumindest potentiell "sozial Bedürftigen" unter den StipendiatInnen dieser vier Werke liegt bei maximal 18, die Quote derjenigen mit sehr wohlhabendem Elternhaus hingegen bei über 50 Prozent (vgl. Studis Online-Artikel "Stipendien ungleich verteilt: Arm bleibt arm und reich studiert"). Ergo: Großteils die Privilegierten profitieren erneut. Begabtenförderung ist hier überwiegend Wohlhabendenunterstützungsprogramm.
"Leistungsförderung" immer soziale Selektion
Für alle öffentlichen Stipendien ist zudem stets "überdurchschnittliche Leistung" ausschlaggebendes Vergabekriterium. Nicht einmal die "linke" Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert hier einen Nachteilsausgleich: auch sie wertet zuerst Leistungen und berücksichtigt dann, bei vermeintlicher "Leistungsgleichheit", soziale Benachteiligung und Kriterien.
Das Problem hieran ist: Leistungen selbst sind von der sozialen Herkunft determiniert. Ein Akademikerkind lernt aufgrund seines Herkunftsvorteiles in der Regel besser und leistet leichter mehr als ein Arbeiterkind. Stipendienvergabe nach Noten und Leistung verstärkt daher per se Bildungsungerechtigkeit und baut sie nicht ab. Dies gilt ebenso für die meisten der privatwirtschaftlichen Stipendien.
Dieser Zusammenhang (Leistung-soziale Selektion) wird auch in der bereits erwähnten Studie offenbar. Laut dieser nehmen die sozialen Unterschiede mit steigendem Notenschnitt zu: Unter der "Leistungselite" der Studierenden (Notenschnitt 1,0 bis 1,4) erhalten nur 7 Prozent der Studierenden aus Arbeiterfamilien, sehr wohl aber 14 Prozent der Studierenden mit Akademikerelternhaus ein Stipendium. Ergo: Selbst bei (vermeintlich) gleicher Leistung ist die Chance des Akademikerkindes auf ein Stipendium doppelt so hoch wie jene eines Arbeiterkindes.
Sozialstaatliche Verantwortung an Markt delegiert
Bei maximal 20.000 öffentlichen Studienstipendien (bisher 14.000) will es die deutsche Politik zukünftig dann auch belassen.
In Form einzig "freundlicher Bitten" delegiert sie die Verantwortung für die sozialen Konsequenzen der Studiengebühren und also – in ihrer Perspektive – daher Aufgabe zum Aufbau eines Stipendiensystems an Wirtschaft und Private weiter, welche hieran jedoch wenig Interesse zeigt.
Eine Suche in der Stipendiendatenbank von e-fellows.net ergibt bezüglich Stipendien der "allgemeinen Förderung", also auch für den stundentischen "Lebensunterhalt", insgesamt zweihundertundsieben fördernde Institutionen.
Kriterien für Otto-Normal-Student völlig ungeeignet
Deren Förderschwerpunkte liegen jedoch fast ausschließlich in vollends spezialisierten Bereichen wie bspw. "bedürftige katholische Frauen" (Adelshausenstiftung für bedürftige katholische Frauen an der Uni Freiburg), "Medizinstudenten, die sich vornehmlich der Gynäkologie widmen" (Dr. Walter Heß-Stiftung für die FAU Erlangen-Nürnberg) oder "nur für Nürnberger" (Johann und Liselotte Lehner Stiftung für Nürnberger) – oder privilegieren oft auch, das eine weitere Möglichkeit, "nur Wirtschaftswissenschaftler". Zudem ist auch die Anzahl der auf diesem Wege vergebenen Stipendien vergleichsweise gering. Sie wird (Zuschüsse, Auslandsstipendien, Einmalzahlungen etc. zusammen genommen) auf maximal 26.000 (entsprechend 1,3 Prozent der Studierenden) geschätzt. Wahrscheinlich fällt sie weitaus geringer aus.
Bei steigenden Studienkosten werden die Studierenden durch diese "Erwartungen" privater Stipendiengeber mehr und mehr auf die Interessen derselben geeicht: Steigen die Studiengebühren noch mehr und ist die einzige Alternative zur Verschuldung durch Kredit bspw. ein privates Stipendium für BWL-Studierende, liegt die Wahl des Studiums nach Interessenlage des Geldgebers womöglich recht nah.
Ebenso kritisch gesehen werden müssen hier private Stipendien, die Studierenden zwar das Studium finanzieren, für welche man sich im Gegenzug allerdings dazu verpflichten muss, nach selbigem so und so viele Jahre dann bei seinem Finanzier zu arbeiten.
Auch öffentliche Stipendien an Erwartungen geknüpft
Auch viele der öffentlichen Stipendien sind jedoch an politische oder sonstige und somit inhaltliche Kriterien ("Bedingungen") geknüpft. Das meint: Wer ein Stipendium erhalten will, muss in der Regel einer bestimmten Konfession zugehörig sein, eine bestimmte Weltanschauung oder Parteinähe besitzen etc.
Das schließt von vornherein Menschen aus und legt jene, die schließlich gefördert werden, auf den Rahmen einer bestimmten ideologischen Prägung fest. Wirklich "freie" Bildung wäre etwas anderes, und ist nicht das, was die "Arbeitsgemeinschaft der Begabtenförderungswerke in der Bundesrepublik Deutschland" hinter dem Deckmantel des "Pluralismus" selbst als "Förderung [eben nur] leistungsfähiger Verantwortungseliten" bezeichnet. Gleichberechtigte Bildung, Bildung mit dem Anspruch auf Emanzipation aller, käme ohne Eliten aus und erklärte nicht antiegalitär zum Förderungsziel, dass man Teil derselben wird.
Vergabepraxis sinnlos gegen Gebühren-Abschreckungseffekt
Studiengebühren schrecken vom Studium ab. Für viele potentiell Studieninteressierte ist die Angst vor hoher Verschuldung groß: an nordrhein-westfälischen Hochschulen ging die Zahl der StudienanfängerInnen nach Einführung von Studiengebühren um 6,5 Prozent zurück. Öffentliche Stipendien wirken diesem "Abschreckungseffekt" nicht entgegen, denn: Bewerbungsvoraussetzung ist in der Regel, dass man bereits Studierender ist. Bewerberinnen "können [in der Regel erst] ab dem 2. Semester gefördert werden".
Eine rühmliche Ausnahme bildet hier die Hans-Böckler-Stiftung der Gewerkschaften, welche im Rahmen der Aktion Bildung momentan auch Schülerinnen und Schülern eine Stipendienbewerbung ermöglicht. Auch beim Evangelischen Studienwerk e.V. Villigst soll eine Förderung "für die Dauer des gesamten Studiums" möglich sein.
Sozial wäre das Gegenteil: Privilegierte Privilegierte privilegiert
Aufgrund des zunehmenden Wettbewerbs unter den Hochschulen werden die bereits so schon Privilegierten zum Teil momentan noch weiter privilegiert: An einigen deutschen Hochschulen können sich die StipendiatInnen der öffentlichen Begabtenförderungswerke von den Studiengebühren befreien lassen; sicher in der Hoffnung, hierdurch "Begabte" anzuziehen und sich dann mit diesen profilieren zu können.
In der Konsequenz führt dies zu folgender Kette an "Auswahlmechanismen". Auf der einen Seiten erhalten a) bevorteilte Jugendliche aus gehobenem Elternhaus i.d.R. bessere Noten, b) aufgrund dieser Noten erhalten sie ein Stipendium, c) aufgrund dieses Stipendiums zahlen sie keine Studiengebühren. Eher "wohlhabende" junge Menschen erhalten somit noch staatliche Förderung und werden von den Studiengebühren befreit.
Anders für die "sozial Benachteiligten" auf der anderen Seite, für die sich das Ganze folgendermaßen darstellt: a) als benachteiligte Jugendliche schaffen sie es seltener an die Hochschulen, haben b) hier dann i.d.R., da sie mehr zuverdienen und nebenher arbeiten müssen etc., schlechtere Noten, erhalten folglich c) also kein Stipendium und werden d) nun auch noch mittels Studiengebühren zur Kasse gebeten.
Und noch ein Geschenk, noch ein Geschenk, noch ein...
Vollkommen pervertierte "Robin-Hood-Politik" betreibt hier momentan die Universität Bonn. Diese gab vor wenigen Tagen bekannt, dass sie alle an der Universität eingeschriebenen StipendiatInnen (einzig) der Studienstiftung des deutschen Volkes mit jährlich eintausend Euro zusätzlich fördern wird, die dann dazu verwandt werden können, die Studiengebühren zu bezahlen.
Die Begrenzung der Förderung auf die StipendiatInnen nur dieser Stiftung stellt dabei eine willkürliche politische Setzung, die zusätzliche Aufwendung universitärer Gelder für die in diesem Sinne "doppelte" Förderung ohnehin schon geförderter Privilegierter ebenso einen Abgesang auf den Gleichheitsanspruch im Bildungssystem wie auch eine Fehlallokation öffentlicher Mittel einzig im Sinne der Produktion einer Elite, die sich nachweislich alles andere als aus finanziell oder sozial benachteiligten Schichten rekrutiert, dar.
Selbst eine "wirtschaftfreundliche" Umfrage von Deutscher Telekom, McKinsey und Holtzbrinck zeitigt glücklicherweise noch als Resultat: solcherlei Praxen empfindet mehr als die Hälfte aller Befragen als eindeutig "ungerecht". Zu Recht: Sie ist hochgradig elitär.
Hintergrundmaterial
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