Keinmalzahlung.deKampagne macht Front gegen „schäbig niedrige 200 Euro“
Bettina Stark-Watzinger (FDP) blickt, vorm Mikrofon im Pressebereich des „Bundesmysteriums für Bildung und Forschung“ (BMBF) stehend, in die Kamera. In den Händen hält sie ein mächtiges Schild, auf dem in großen Lettern prangt:„Eure Armut ist uns scheißegal“. Darunter ein Internetlink: „keinmalzahlung200.de“.
Die gleichnamige Kampagne, eine Gemeinschaftsaktion von Studierendenvertretern, Gewerkschaftern und der Piratenpartei, ist die passende und krachende Retourkutsche auf das bislang peinlichste Projekt der amtierenden Ampelregierung. „Keinmalzahlung“ klagt gleich doppelt an: Obwohl vor bald sechs Monaten angekündigt, ist die sogenannte „Soforthilfe“ für Hoch- und Fachschüler heute immer noch nicht da – und dabei wird es auf immer noch unbestimmte Zeit auch bleiben.
Zweitens sind die ausgelobten 200 Euro angesichts der historischen und anhaltenden Teuerungswelle bei Energie und Lebensmitteln weniger als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. In den Worten der Initiatoren: „Einmal ist Keinmal! Warum sind wir Euch so egal?“ Von einer „Bankrotterklärung“ spricht die Bundesvorsitzende der Piraten, Anne Herpertz. „Schon vor der Krise war die Lage der Studierenden prekär. Nun ist die Not riesig. Die Antwort der Bundesregierung darauf: zu wenig, zu spät, zu kompliziert.“
Inflationsausgleich beim Panzerkauf?
Für Januar hat das Statistische Bundesamt eine Inflationsrate von 8,7 Prozent ermittelt. Über dem Schnitt, nämlich bei zehn Prozent, liegen allerdings Familien und Geringverdiener, weil die Güter des Grundbedarfs bei ihren Konsumausgaben besonders durchschlagen, wie die Hans Böckler Stiftung zu Wochenanfang mitteilte.
Die große Mehrheit der Studierenden ist dieser Gruppe zuzurechnen. Schon 2021 lebten von ihnen fast 40 Prozent unterhalb der Armutsschwelle. Wie wird die Situation heute, nach über einem Jahr Kostenexplosion sein? Ja, wie wohl? Die „Semesterbeiträge allein sind höher als diese schäbig niedrigen 200 Euro“, heißt es auf der Kampagnenwebseite. Viele wüssten „seit Jahren nicht mehr, wie sie ihr Leben finanzieren sollen. Keine Ersparnisse, kein Inflationsausgleich“.
Apropos: Für die deutsche Armee hat die Bundesregierung ein „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro beschlossen. Wobei schon jetzt ernsthaft überlegt wird, die Summe wegen der schwindenden Kaufkraft aufzustocken. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) fordert ein Plus um satte zehn Milliarden Euro. Warum wird dergleichen eigentlich nicht für die sogenannte Energiepreispauschale in Betracht gezogen?
Winter mal länger
Auf Sendung ging die Kampagne am Mittwoch. Beteiligt sind der „freie zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs), verschiedene Landesastenkonferenzen, parteinahe Hochschulgruppen wie Campusgrün und die der Jusos (SPD), die zur Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gehörende Studis-GEW, der Bundesverband ausländischer Studierender (BAS) sowie die Piratenpartei Deutschland.
Sie alle eint der Frust und die Wut auf die Verantwortlichen in Bund und Ländern, die die Studierenden seit inzwischen über drei Jahren praktisch sich selbst überlassen. Die Existenznöte waren bereits während der Corona-Krise gewaltig, im Gefolge des Ukraine-Kriegs sind die Zumutungen noch einmal größer geworden. Schon die Pandemie-„Überbrückungshilfen“ kamen reichlich spät und fielen ziemlich mager aus.
Die Hängepartie bei der „Einmalzahlung“ toppt das politische Versagen noch einmal. In der Frühphase war die Rede davon, der Zuschuss werde zum Jahresanfang 2023 überwiesen. Später legte sich Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger auf „in diesem Winter“ fest, dessen Ende ihr Pressesprecher Clemens Escher – im Nebenberuf Wetteronkel – vor vier Wochen in der Bundespressekonferenz freihändig auf „März, April“ terminierte. O-Ton: „Es ist ja noch kalt“.
Pilotbetrieb gestartet
So oder so wird es bis zur Bescherung noch dauern. „Wann kommt beim BMBF der Weihnachtsmann“, fragen die Bündnispartner und weiter: „Das ist viel zu spät. Wir brauchen seit fünf Monaten Geld – und warten auch auf weitere Unterstützungsleistungen!“ Geduld! Bis zum nächsten Fest der Liebe sind es noch zehn Monate.
Ach was, kein Grund, schwarzzumalen!? Schließlich wird ja nun der 15. März als Starttermin angepeilt – als Antragsstart, versteht sich. Das mit der Auszahlung wird sich noch länger hinziehen, vielleicht bis April oder Mai oder noch später. Immerhin sollen die Betroffenen bis 30. September 2023 Zeit bekommen, das Geld zu beantragen. Vielleicht ahnt man bei BMBF, dass die Technik dem kommenden Ansturm nicht gewachsen sein könnte.
Um bösen Überraschungen zu entgehen, sind Anfang März einige wenige Hochschulen in Testbetrieb gegangen. Zu den Pilotstandorten zählen die Hochschule Coburg (Bayern), die Universität Magdeburg (Sachsen-Anhalt), die Ostfalia-Hochschule (Niedersachsen) und die Hochschule Reutlingen (Baden-Württemberg). Läuft alles rund, soll ab Monatsmitte überall in Deutschland die Beantragung über die Plattform einmalzahlung200.de möglich sein.
Unnötig kompliziert
Allerdings wird es auch mit dem zweiten Versprechen, neben dem, dass es „schnell“ gehen soll, nichts werden, von wegen „unbürokratisch“. Stattdessen wird es unnötig kompliziert. Das liegt vor allem daran, dass die potenziell 3,5 Millionen Antragsberechtigten sich eine „BundID“ zulegen müssen, ein digitales Nutzerkonto, worüber sich nach dem Leitbild „E-Government“ Verwaltungsleistungen unterschiedlichster Behörden online beantragen lassen. Um das Konto anzulegen, bedarf es nach BMBF-Darstellung entweder der Online-Ausweisfunktion des neuen elektronischen Personalausweises oder eines persönlichen Elster-Zertifikats des Finanzamtes.
Offiziell begründet wird dies damit, möglichen Missbrauch auszuschließen, indem etwa Unbefugte den Zuschuss beantragen oder Befugte doppelt und dreifach abkassieren. Den Machern von „Keinmalzahlung.de“ ist das suspekt. „Müssen wir Basismodule in Verwaltungswissenschaft bestehen, um das zu verstehen?“ Hier werde „bewusst darauf gepokert, dass möglichst wenig Studierende und Fachschüler:innen an ihre viel zu niedrige Einmalzahlung kommen“, bemerkte Piratenparteichefin Herpertz in einer Medienmitteilung.
Datenschützer alarmiert
Das klingt nach einer bösen Unterstellung. Es kursiert noch eine weitere, nämlich die, dass die Regierung Millionen Menschen in akuter Notlage im Gegenzug für 200 Euro einen Ladenhüter aus der IT-Abteilung aufnötigen wolle. Tatsächlich hat die „BundID“ bis dato kaum Abnehmer. 2019 gestartet, zählte das zuständige Bundesinnenministerium bis vor einem Jahr lediglich 100.000 Nutzer. Dass es inzwischen über 400.000 sind, hängt damit zusammen, dass zuletzt mehrere Bundesländer ihre bisher landeseigenen Services unter dem „Nutzerkonto Bund“ (NKB) zentralisiert haben.
Als FDP-Politikerin dient Stark-Watzinger mit Bundesfinanzminister Christian Lindner einem Parteichef, der im Bundestagswahlkamp 2017 plump plakatierte: „Digital first. Bedenken second.“ Und tatsächlich gibt es auch heute Datenschützer, die wegen der Sache mit der „BundID“ Bedenken haben. Der Jurist und Datenschutzexperte Christian Aretz erinnerte unlängst gegenüber Netzpolitik.org daran, dass eine datenschutzrechtliche Einwilligung eigentlich auf dem Prinzip der Freiwilligkeit fußen müsse. Das ist bei der Konstellation Geld gegen Daten eher nicht der Fall.
Auch der Hackerin Lilith Wittmann missfällt es, wenn Studierende und Fachschüler quasi gezwungen würden, der Verarbeitung ihrer Daten zuzustimmen, während die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) dies eigentlich verhindern solle. Selbst im Lager der mitregierenden SPD- und Grünen-Partei wird gemurrt, die überflüssige, zusätzliche Hürde sei ein „schlechter Witz“.
Doch vor allem beim BMBF und der FDP scheint „Die jungen Leute (müssen) das doch können“ das Motto zu sein. Selbst wenn sich die BundID in vielen Fällen problemlos mit der Online-Ausweis-Funktion anlegen lässt – es gibt auch diverse Konstellationen, bei denen es zu Problemen kommt. Sei es, dass der Server überlastet ist, sei es, dass selbst unter „jungen Leuten“ nicht alle ein NFC-fähiges Smartphone haben (für AusweisApp2 nötig). Überhaupt und wie weiter unten noch ausgeführt wird: Es gibt ja durchaus eine einfachere Lösung. Und in einer Notlage sollte die genommen und kommuniziert werden und nicht „nebenbei“ (und mit mehr Aufwand für die Betroffenen) die „BundID“ gepusht werden.
Es geht auch einfacher – aber nicht überall?
Nicht zum Lachen ist auch die Informationspolitik rund ums Thema Beantragung. Man kann nämlich durchaus leichter an die „BundID“ kommen, als dies vom BMBF (nicht) kommuniziert wird. Erforderlich sind dafür allein der von den Ausbildungsstätten vergebene Zugangscode und eine zugehörige PIN. Mit ihnen lässt sich das Konto durch Eingabe einer E-Mail-Adresse (Username) und eines Passwortes anlegen, ohne dass es dafür extra einen E-Personalausweis oder ein Elster-Zertifikat bräuchte.
Zum Beispiel beschreibt die Fernuniversität Hagen diesen Lösungsweg auf ihrer Webseite („Text aufklappen“ anklicken). Zitat: „Der PIN-Code, den Sie über den virtuellen Studienplatz von der FernUni erhalten, ist somit die einfachste Möglichkeit, Ihre Identität für die Beantragung der 200 Euro nachzuweisen.“ Studis Online listet hier bis dato zehn Hochschulen auf, die die PIN elektronisch zur Verfügung stellen wollen. Ebenso gilt dies wohl für die Hochschulen in Bayern, wobei bisher nicht klar ist, ob in allen Fällen.
Kino fällt aus
Dagegen gibt es Hochschulen, die die Option mit der PIN komplett verschweigen, darunter die Hochschule Reutlingen. Aus Sachsen heißt es gerüchteweise, dass es zwingend der Registrierung mit E-Perso oder Elster-Zertifikat bedarf. Ein Sonderfall ist die Medizinische Hochschule Hannover: Hier soll die PIN zwar elektronisch vergeben werden, jedoch erst 14 Tage nach dem Zugangscode.
Willkommen im Bürokratiedschungel. Das Ganze hat etwas Kafkaeskes und belegt einmal mehr, wie rücksichtslos die Politik mit Millionen jungen Menschen umspringt, die niedrigschwellige und echte Hilfe bitter nötig haben. Carlotta Eklöh, fzs-Vorstandsmitglied, brachte es auf den Punkt: „Die Armut unter uns Studierenden ist eine Dauerkrise“, die „endlich mit strukturellen Reformen gelöst werden“ sollte. „Auch wir wollen endlich mal wieder sorgenfrei ins Kino gehen oder uns eine Reparatur in der Wohnung leisten können.“ (rw)